[CN: Dieser Artikel betont deutlich die Notwendigkeit von integrativen Ansätzen für DIS. Das kann für Systeme, die sehr auf die Vorstellung von ‘vielen Personen in einem Körper’ bauen, starke, unangenehme Gefühle auslösen.]
Es gibt grob 2 Herangehensweisen an die innere Arbeit mit dissoziativen Anteilen. Eine basiert darauf, Beziehungen zwischen Anteilen aufzubauen, die andere dreht sich darum, die strukturelle Trennung zwischen Anteilen, die Probleme verursacht, zu mildern. Beide Varianten sind wichtig. Es scheint nur, dass die Erste eher bekannt ist, weil sie sich mit Ego State Arbeit für nicht-dissoziative Menschen mehr überlappt und weil man dort in der Stabilisierungsphase beginnt. ‘Strukturelle’ Integration gehört spezifisch zu struktureller Dissoziation und wird in späteren Phasen der Behandlung wichtiger.
Der Beziehungs-basierte Ansatz
Im Beziehungs-basierten Ansatz konzentriert man sich darauf, die anderen Anteile kennenzulernen und mit Hilfe von Kommunikation und Kooperation Vertrauen aufzubauen und das Leben zusammen zu gestalten. Typische Übungen für diesen Ansatz sind:
- ersten Kontakt aufbauen
- eine Innere Landkarte erstellen
- Team Meetings etablieren
- Tagebuch schreiben
- Innere Kinder versorgen lernen
- …
Das hilft uns, den Einfluss von Amnesien und das Chaos im Alltag zu reduzieren. Wir werden besser darin, unser System zu organisieren und Konflikte zu managen, indem wir Diskussionen und Kompromisse nutzen. Es stabilisiert die Art, wie wir mit den Folgen der strukturellen Dissoziation umgehen. Starke innere Beziehungen können auch zu besserer Co-Regulation zwischen Anteilen führen und allen helfen, sich besser unterstützt zu fühlen.
Der integrative Ansatz
Der integrative Ansatz bezieht sich auf die dissoziativen Barrieren zwischen den Anteilen und setzt auf Integrative Handlungen. Der Fokus besteht darin, Informationen über die Barrieren hinweg verfügbar zu machen, die Anteile voneinander trennen und einen gemeinsamen Bereich zu erschaffen, der für alle zugänglich ist. Das hat einen Einfluss darauf, wie Anteile sich selbst und die Welt um sich herum erleben. Typische Aufgaben, die diesen Ansatz unterstützen, sind:
- Anteile in Ort und Zeit orientieren (Präsentifikation): Trauma Anteile lernen, dass die Vergangenheit vor langer Zeit passiert ist, Funktionsanteile lernen, dass sie eine traumatische Vergangenheit haben
- Anteile im System orientieren (Personifikation): Anteile lernen, dass es noch andere Anteile gibt und dass alle zu einem System von Anteilen gehören, das eine ganze Person ausmacht
- Orientieren in der Lebensrealität (Realisation): Anteile lernen, dass die Person, die sie sind, ein komplexes Leben hat, das einen eigenen Verlauf hat und gemanaged werden muss. Die äußerer Realität ist real und anders als die innere Realität
- Puzzleteile des Lebens verbinden (Synthese): Stücke von Erinnerung, Fertigkeiten und Begabungen, Gefühlen, Körperwahrnehmungen und Gedanken, Bedürfnissen usw werden gesammelt und miteinander verbunden, um ein neues Lebensgefühl zu erschaffen und ein geteiltes Set von Funktionsweisen, auf das alle Zugriff haben
Übungen die hier wichtig sind, sind zum Beispiel:
- Orientierung und Grounding mit Anteilen
- Realitäts-Checks mit Anteilen
- Gegenwart und Vergangenheit diskriminieren mit Anteilen
- Gruppen-Containment
- jeder Versuch, die Rolle von Anteilen im System zu verstehen und ihnen zu erlauben, diese Rolle zu aktualisieren, damit sie zu heutigen Bedürfnissen passt (im Inhaltsverzeichnis finden sich Artikel zur Integration spezifischer Arten von Anteilen)
- Übungen, die direkt mit den dissoziativen Barrieren arbeiten wie Barrieren erhöhen, Teilen oder Blending
- …
Das zielt auf die Folgen von Trauma und struktureller Dissoziation ab und soll eine bleibende Veränderung darin bringen, wie Anteile sich und die Welt wahrnehmen. Es löst Stressreaktionen auf und verändert auch alte Impulse, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten und führt neue Wege ein, wie man in der neuen Realität zurecht kommt.
Ich glaube, dass es beide Herangehensweisen braucht, um erfolgreiche innere Arbeit zu machen. Die integrativen Übungen sind einfacher, wenn es zwischen Anteilen eine vertrauensvolle Beziehung gibt. Es braucht von ihrer Seite aus Kooperation und Vertrauen, um sich von uns anleiten zu lassen. Wenn wir mit ihnen einen Realitäts-Check der äußeren Welt heute machen, brauchen sie eine unterstützende Beziehung, um mit so großen Neuigkeiten und Veränderungen umzugehen.
Zählen wir Kommunikation über dissoziative Barrieren hinweg als Beziehungsarbeit, dann hat auch das schon einen Einfluss auf die Trennung zwischen den Anteilen. Diese Prozesse sind gar nicht streng getrennt. Sie haben nur unterschiedlich viel Wert in unterschiedlichen Situationen. Vereinbarungen und Kompromisse sind keine endgültigen Lösungen, die managen nur die Situation aktuell. Das macht sie ideal für die Phase der Behandlung, wo wir versuchen, Chaos zu reduzieren und Symptome zu managen. Integrative Handlungen lösen Probleme auf bleibende Art und verändern die Lebensrealität signifikant. Der Fokus darauf eliminiert Symptome und Konflikte langfristig.
Unbeliebt!
Mir scheint, dass manche Menschen mit DIS sich sehr auf Beziehungs-basierte Ansätze verlassen und so ihr inneres Leben als Gruppe oder sogar innere Familie managen. Die meisten Bemühungen fließen in Kommunikation und darein, Vereinbarungen zu finden, wie man das Leben leben kann. Über integrative Ansätze wird nicht so viel gesprochen und manchmal werden sie auch zutiefst abgelehnt. Warum?
Der integrative Ansatz schaut aus einer anderen Perspektive auf ein System. Er folgt nicht der subjektiven Erfahrung (viele Personen in einem Körper) und versteht uns statt dessen als eine Person mit vielen Anteilen, die durch dissoziative Barrieren voneinander getrennt sind. Es gibt nur einen Körper. Die Trennung zwischen den Anteilen folgt den Linien von Handlungssystemen oder BASK Elementen, also ist die Funktionsfähigkeit einer ganzen Person aufgeteilt zwischen vielen Anteilen. Kein Anteil hat Zugang zu allen Funktionen (Erinnerungen, Fertigkeiten, Stressreaktionen, psychologische Funktionen, Kontrolle über den Körper usw). Anteile müssen sich abwechseln, um alle Funktionen zu unterschiedlichen Zeiten verfügbar zu machen. Das ist der wissenschaftliche Blick auf DIS. Er fühlt sich nur zutiefst unwohl an, wenn man an der Idee von ‘vielen Personen’ hängt, weil die viel mehr dem felt sense der eigenen Realität entspricht. Anteile können sich in ihrer Existenz bedroht fühlen, wenn sie erfahren, dass sich nicht unabhängig, eigenständig und jemand völlig anderes sind als die anderen. Alles, was dann auch nur entfernt nach Integration aussieht, in der Art, wie es uns beeinflusst, kann dann abgelehnt werden.
Warum es trotzdem wichtig ist
Dissoziation verursacht Probleme. Es entsteht ein ständiges ‘zu viel’ und ‘nicht genug’, wenn man innere Funktionen voneinander abtrennt.
Ein Beispiel ist unser Zeit- und Kraftmanagement. Es gibt genug Zeit und Kraft für ein Leben. Es ist ‘nicht genug’, damit alle Anteil ihr eigenes, erfülltes Leben führen können. Wir werden immer Kompromisse eingehen müssen und ausdiskutieren, wie wir unsere Zeit verbringen (was viel Zeit kostet), wenn wir eine integrierte Sicht auf unser Leben und wer wir sind vermeiden. Das wird besser, wenn wir nicht mehr so viel Zeit damit verlieren, desorientiert zu sein oder uns zu widersprechen. Ein mehr vereintes Leben passt in eine normale Lebenszeit. Was wir dann an einem bestimmten Tag tun wollen und tun können, ist reduziert auf den Rahmen von Zeit und Kraft, den wir als Kollektiv haben und ist nicht ein Vielfaches davon. Die Länge eines Tages fängt an, in Relation zu unserer Energie und unseren Wünschen Sinn zu ergeben.
Ein anderes Beispiel sind unsere Bedürfnisse. Die sind immer zu viel. Das ‘zu viel’ wird zum Teil herbeigeführt von den dissoziativen Barrieren, die Bedürfnisse in der Vergangenheit stecken geblieben festhalten, sodass ihnen heute nicht begegnet werden kann. Andere Bedürfnisse sind in gegensätzliche Extreme gespalten und in unterschiedlichen Anteilen gelagert und die Trennung voneinander hält sie davon ab, sich auf gesunde Art und Weise gegenseitig auszugleichen. So bleiben wir in Extremen stecken, die sich überwältigend und ohnmächtig anfühlen. Das Prinzip ist einfach nicht so gedacht, dass zB das Bedürfnis nach Ruhe und Pausen gleichzeitig und getrennt voneinander stattfindet von dem Bedürfnis nach Aktivität. Wenn die Trennung aufgehoben wird, können sie sich sinnvoll abwechseln. Die Intensität von Bedürfnissen wird dramatisch geringer, wenn sie integriert werden (ähnlich wie die Intensität von Trauma-bedingten Gefühlen geringer wird, wenn die Erinnerung integriert wird).
Wir haben schon über Machtkämpfe zwischen Anteilen gesprochen, die sich in gegensätzliche Richtungen bewegen. Die werden durch eine strukturelle Integration unserer Bedürfnisse und Ziele beendet. Bedürfnisse finden einen Platz in der Art, wie wir funktionieren, und indem sie allgemein zugängliches Eigentum werden, fühlt es sich nicht mehr ständig wie ein Überlebenskampf an. Sie normalisieren sich.
Beziehungs-basierte Ansätze bereiten uns auf größere Veränderungen vor, aber sie können diese Veränderungen nicht leisten. Erst wenn wir an der strukturellen Dissoziation und ihren Folgen arbeiten, bekommen wir eine bleibende Entlastung und sowas wie Recovery.
Nicht alle Therapieansätze verstehen die Art von integrativen Handlungen, die es braucht, um uns mit unserer strukturellen Dissoziation zu helfen. Kommunikation ist langfristig nicht genug. Insbesondere Kompromisse sind nicht genug. Die Art von Therapie mit Anteilen, die nicht-dissoziativen Menschen weiterhilft, ist nicht genug. Beziehungs-Ansätze sind ein wichtiger erster Schritt, aber eigentlich kein Ziel in sich selbst. Sie bilden das Fundament für mehr strukturelle Veränderungen darin, wie wir funktionieren.
Niemand kann vorhersehen, wie viel Integration wir erreichen können. Jede integrative Handlung, die wir schaffen, bringt eine Entspannung in eine höchst angespannte Situation. Die sind nicht der Feind. Vielleicht bemerken wir, dass wir unsere Zeit und Energie verpuffen lassen, wenn wir uns nur auf Beziehungs-Ansätze verlassen und versuchen, langfristig an Stellen mit Kompromissen zu arbeiten, die nicht für Kompromisse gemacht sind. Es gibt mehr und andere Techniken da draußen, als immer nur noch ein Team Meeting zu machen. Wir beginnen bei Beziehungen. Dann gehen wir dazu über, die Dissoziation in unserem Tempo Schritt für Schritt zu demontieren. Dann kommen wir davon weg, die strukturelle Dissoziation immer nur zu managen und lösen sie statt dessen langfristig auf.